Ein normaler Kinogänger achtet vermutlich seltener auf Einstellungsgrößen, welche aber eine große Bedeutung haben, wie eine bestimmte Einstellung, gerade auch im Verhältnis zu den anderen Einstellungen innerhalb einer Szene wirkt. Dennoch tragen diese entscheidend dazu bei, wie eine Szene und auch der Film insgesamt gesehen wird. Gerade für Filmschaffende, aber auch Menschen, die sich beruflich mit Film auseinander setzen, zum Beispiel als Filmwissenschaftler oder Filmkritiker, ist eine genaue Kenntnis über Einstellungsgrößen und deren Funktionsweise äußerst relevant. In unseren zahlreichen Seminaren und Workshops, aber auch in der Arbeit mit dem filmischen Nachwuchs stellen wir allerdings immer wieder fest, dass hier oftmals nur wenige Kenntnisse bestehen, warum eine bestimmte Einstellungsgröße gewählt wurde und wie dies zu interpretieren ist. Die Kenntnis hierüber schärft den Blick für die Analyse und Interpretation anderer Filmwerke und ermöglicht so auch für die eigene filmische Arbeit entsprechend große Spielräume. Was "Die richtige Einstellung" ist, erläutert hier zum Beispiel Steven D. Katz in seinem gleichnamigen Buch.
Die Wahl der verschiedenen Einstellungen und Perspektiven ist ein wesentlicher Aspekt für filmische Raumkonstruktionen. Einstellung für Einstellung erschließt sich dem Betrachter diese Welt, fragmentiert, oftmals unscharf und ungenau. Nicht nur in der filmischen, sondern gerade in der perzeptiven Montage des Zuschauers manifestiert sich das bruchstückhafte Gesamtbild des Ortes, einer Wohnung, eines Häuserblocks, eines Stadtviertels oder einer ganzen Stadt. Der filmische Ort hat so eine andere Dichte als der reale Ort, kann stärker ins Detail gehen oder Informationen auslassen.
In der Groß- oder auch schon in der Nahaufnahme verschwindet der identifizierbare Raum, bei entsprechenden Brennweiten zudem in der Tiefenunschärfe, welche den Raum im Hintergrund nur noch andeutet. Je weiter eine Einstellungsgröße gewählt ist, umso mehr wird vom gesamten Raum des Drehortes und von der Architektur sichtbar, in der die Handlung spielt. Unterschieden werden können hier die wichtigsten Einstellungsgrößen (geordnet von sehr weit bis sehr nah) 1. Totale, 2. Halbtotale, 3. Nahaufnahme, 4. Großaufnahme, 5. Detail. Während in nahen Aufnahmen der Raum verschwindet, um so die Bedeutung auf die Figuren oder Objekte zu legen oder auch räumliche Schwierigkeiten oder geografische Ungenauigkeiten zu kaschieren, wenn an einem anderen Ort gedreht wurde oder bestimmte architektonische oder andere Elemente aus dem Bild genommen werden sollen, so werden weite Aufnahmen bewusst zum Einsatz gebracht, um dem Publikum auch mehr Informationen über den Ort der Handlung zu vermitteln.
Das Auge der Kamera kann die Welt nur begrenzt einfangen
Hinzu kommt die Kameraposition, welche entweder aus der Froschperspektive, in einem unteren Einstellungswinkel (vom Boden aus nach oben gefilmt), auf Objekthöhe, auf einem höheren Einstellungswinkel oder aus der Vogelperspektive die Szenerie einfangen kann. Natürlich sind in diesem dreidimensionalen Raum, in welchem sich die Kamera statisch, aber auch frei bewegen kann, weitere Winkel möglich, die zur Aussage und Bildästhetik beitragen können. Einige solche Beispiele finden sich im Drogendrama „Trainspotting“ (UK 1996, Regie: Danny Boyle); wenn beispielsweise der Protagonist Mark Renton durch einen kurzen Straßentunnel auf die Kamera zuläuft, die ihn seitlich auf dem Boden liegend einfängt und ihn, als dieser den Standort der Kamera passiert, mit einer Rotationsbewegung um 180 Grad über zwei Achsen verfolgt und auf ihm stehen bleibt, während er nun von der Kamera wegläuft. Hier unterstreicht die ungewöhnliche Kamerabewegung vielfach und sehr kreativ das Chaos der Protagonisten, die sich im Drogenmilieu bewegen, stets verzweifelt auf der Suche nach dem nächsten Schuss.
Auch Kameraschwenks oder -fahrten, Zooms, also eine Brennweitenveränderung des Kameraobjektivs, das wie eine Hin- oder Rückfahrt wirkt und ein Objekt vergrößert (zoom-in) oder verkleinert (zoom-out), bis hin zur entfesselten Steadicam (Schwebestativ) oder Handkamera, die freie Kamerabewegungen im Raum ermöglichen, erschließen den filmischen Raum, ohne der Notwendigkeit eines Schnittes, um verschiedene Perspektiven zu zeigen. Ein besonders spannendes Beispiel, das einen Schwenk und eine Kamerafahrt raffiniert miteinander verbindet, ist der nach dem Film von Alfred Hitchcock „Vertigo – Aus dem Reich der Toten“ (USA 1958) benannte „Vertigo-Effekt“. Hitchcock setzte diese Technik ein, um das Schwindelgefühl des Protagonisten John „Scottie“ Ferguson (James Stewart), der an Höhenangst leidet, visuell darzustellen. Die Kamera fährt auf das Objekt zu, während gleichzeitig rückwärts gezoomt wird, beides so aufeinander abgestimmt, dass sich der Bildausschnitt nicht ändert, was zu einer Streckung der perspektivischen Tiefe führt, da sich der Hintergrund und weiter von der Kamera entfernte Bildelemente vom Zuschauer wegzubewegen scheinen. Dieser Effekt wird auch gerne in anderen Filmen verwendet, um eine Person vom Raum abzuheben, beispielsweise, um einen Schockmoment visuell zu betonen. Ein entsprechendes berühmtes Beispiel ist „Der weiße Hai“ (USA 1975, Steven Spielberg), als Polizeichef Martin Brody (Roy Scheider) beobachten muss, wie der Hai einen kleinen Jungen angreift und tötet.
Die entfesselte Kamera
Bewegte Kameraeinstellungen sind gerade heute ein beliebtes Stilmittel, oftmals auch verbunden mit hohen Schnittfolgen, aber auch als eigenständige Filmtechnik, denkt man an Filme wie die schwarze Komödie „Birdman oder (Die unverhoffte Macht der Ahnungslosigkeit)“ (USA 2014, Regie: Alejandro González Iñárritu), der vom Eindruck her in einer einzigen Plansequenz gedreht wurde, also für das Publikum vollständig ohne Schnitte funktioniert, um so eine Nähe zu den Filmcharakteren und eine Mittelbarkeit zur Handlung herzustellen. Dieser Film ist ein Paradebeispiel, wie mit Perspektivwechseln, Veränderungen der Einstellungsgröße, Verlagerung der Handlung auf verschiedene Charaktere durch entsprechende Kameraschwenks, nicht nur die Geschichte vorangetrieben wird, sondern gerade auch das Gebäude, ein Broadway-Theater, lebendig wird und die verschiedenen Räume, die Künstlergarderoben, Büros, die Vorder- und Hinterbühne sowie die Straße vor und hinter dem Theater erlebbar machen. Hierdurch wird das Publikum gerade auch durch die Kameraarbeit und ein hervorragendes Bühnenbild in diese emsige Kunst-Welt voller Intrigen, Konkurrenzdruck und Beziehungsproblemen gezogen. Eines meiner Lieblings-Beispiel für eine Plansequenz ist die Eröffnungsszene von "Boogie Nights" (USA 1997, Regie: Paul Thomas Anderson).
Während viele früheren Filmwerke eher statisch und langsam daherkommen, lässt sich insgesamt eine immer stärkere narrative Beschleunigung über die nunmehr etwa 125-jährige Filmgeschichte beobachten. Dies liegt insbesondere an den sich ständig verändernden Sehgewohnheiten des Publikums, aber auch an dessen zunehmenden rezeptiven Kompetenz, welche eine entsprechend beschleunigte Erzählweise erlaubt.
Ein besonderes Augenmerk muss gelegt werden auf die Beziehung der Filmcharakter und dem Filmraum, in welchem sie sich bewegen und auch dem hierdurch entstehenden Verhältnis zu den anderen Akteuren. Nimmt man zum Beispiel eine der vielen Kampfszenen aus dem Kolosseum des Monumentalfilms „Gladiator“ (USA 2000, Regie: Ridley Scott), in welcher der Gladiator Maximus nicht nur Kämpfe gegen seine Gegner in der Arena zu bestreiten hat, sondern auch einen Machtkampf mit dem auf der Empore thronenden Imperators Commodus ausficht, erschließt der Raum nicht nur die gewaltigen Dimensionen des Kolosseums, sondern wird auch genutzt, um die jeweiligen Herrschaftsverhältnisse des versklavten Gladiators und dem durchtriebenen und windigen Imperator darzustellen. Wird in Totalen die Gladiatoren ameisengleich in der Arena gezeigt, sodass diese sehr verletzlich erscheinen, wird Maximus bei seinem Triumpf gerne in niedrig gefilmten Nah- und Großaufnahmen gezeigt, die ihn durch diese Einstellungswahl die Szenerie dennoch dominieren lassen. Generell kann hier festgestellt werden, dass Personen und Objekte, welche in steilem Winkel von unten gefilmt werden, mächtiger bzw. dominanter erscheinen, während bei einem steilen Winkel von oben gefilmt Personen und Objekte klein und unterwürfig wirken.
Ähnliches gilt für die Position der Filmcharaktere im Raum in der Mis en Scène, der räumlichen Anordnung der Figuren und Objekte im Bild. Personen, welche in der gleichen Einstellung näher bei der Kamera stehen, dominieren zum Beispiel das Bild, während Charaktere weiter hinten kleiner und schwächer wirken. Es sei denn, diese werden durch andere Akteure umrahmt, befinden sich an einem höheren Punkt wie einem Thron am Ende einer Treppe, auf einer Kanzel oder einem Rednerpult, sodass die Architektur ihre Dominanz betont, oder sie werden noch zusätzlich durch Untergebene umrahmt, welche ihre Macht auf andere Menschen sichtbar werden lässt.
Die Wahrnehmung des filmischen Raums erscheint so als Wechselspiel zwischen dem realen Ort, dessen selektiver Abbildung durch die Produktion und deren Rezeption durch das Publikum. Ein subjektiver Prozess, der ein Filmerlebnis einzigartig und besonders macht. Und auch für die Filmschaffenden auf der anderen Seite ist es eine gestalterisch-kreative Möglichkeit, Räume abzubilden und ihre Geschichten mit dem gezielten Einsatz visueller Narrationstechniken zu verknüpfen.
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